Wie soll das nur gehen?
Vor 10 Tagen wurde der Shutdown verkündet und nur drei Tage später kam der Lockdown. Nach den Schulen und dem Aufruf zum Home-Office wo immer möglich, wurden auch alle Restaurants, Hotels, Coiffeure, Fitness- und Wellnesscenter, sowie alle Läden geschlossen, die nicht unmittelbar zur Grundversorgung beitragen. Was vor kurzem noch unvorstellbar erschien, ist nun Alltag. «Bleiben Sie zuhause!», lautet die Devise. Rausgehen soll nur, wer dringend etwas einkaufen, zur Apotheke, zum Arzt oder zur Arbeit gehen muss, oder der jemandem hilft, diese Dinge zu tun. Spazierengehen darf man, um etwas frische Luft zu schnappen und den Hund ausführen selbstverständlich auch. Aber nur kurz und möglichst alleine, oder mit Personen aus dem gleichen Haushalt. Es ist ein Einschnitt in unser Leben, wie es ihn seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Viele unserer demokratischen Grundrechte sind eingeschränkt worden. Versammlungsverbot, Ausgehverbot, Schulverbot und sogar Einkaufseinschränkungen gibt es. Wie kann sie da nur von mehr Selbstbestimmtheit sprechen, wenn doch viele unserer Rechte massiv eingeschränkt wurden und unser Alltag draussen so fremdbestimmt ist wie noch nie, fragst du dich vielleicht. Eine berechtigte Frage. Für alle ist dies eine unfassbar schwere Zeit. Eltern, die ihre Kinder plötzlich zuhause unterrichten sollen, fragen sich, wie das gehen soll. Männer und Frauen, die Home-Office machen müssen und nicht wissen wie. Jugendliche, die ihre Kontakte und ihre Partys urplötzlich aufgeben müssen sind frustriert und ältere Menschen, die vielleicht schon vorher isoliert waren, sind gezwungen in ihren vier Wänden zu bleiben und haben Angst vor Vereinsamung. Menschen mit einer chronischen Krankheit gehören zu der Risikogruppe und müssen nun Angst haben von einer Krankheit dahin gerafft zu werden, von der sie noch nie gehört haben. Wie soll man das aushalten? Wie damit umgehen? Und doch. Nach 10 Tagen gibt es so etwas wie einen "neuen Alltag". Man sitzt zwar zuhause und ist genervt, dass man nicht raus darf und dass alles anders ist als man es gewohnt ist. Aber man merkt vielleicht auch, dass man plötzlich mehr Zeit hat und dass man doch vieles noch tun kann. Viele Gruppen, die Hilfestellung leisten und mit Ideen und Kreativität nicht sparen, wurden über die Sozialen Medien gegründet und man kann sich die Zeit zuhause nach eigenem Gutdünken einteilen. Sicher, man muss Home-Office machen, die Kinder betreuen, Home-Schooling auch und jeden Tag kommen neue Schreckensmeldungen dazu. Weniger fremdbestimmt Aber man ist auch weniger fremdbestimmt im Innern. Das fängt morgens an. Man kann aufstehen, wann man möchte. Vielleicht ist das eine Stunde später als sonst, vielleicht auch nur zehn Minuten, aber diese Minuten machen es aus. Man kann auch erst noch etwas liegenbleiben, wenn man möchte, statt wie sonst sofort aus dem Bett zu springen, weil man nirgends hin, keinen ÖV erwischen und keinen Stau vermeiden muss. Man kann sich entscheiden, ob man erst frühstücken möchte, gemütlich im Pyjama, und dann erst sich zurecht machen will oder man kann, wenn man Lust hat, das Pyjama auch ganz anbehalten. Es sieht ja niemand, ausser dem Partner und den Kindern, und die stört es nicht. Man kann auch erst etwas erledigen und dann frühstücken. Oder man kann es ganz sein lassen, wenn man nicht der Frühstückstyp ist, weil man jederzeit etwas essen kann, sollte man später Hunger verspüren. Es gibt keine Vorschriften. Vielleicht will man auch erst noch etwas meditieren oder sich sonst ein schönes Morgenritual gönnen, für das man sonst nie Zeit findet, bevor man sich an die Arbeit macht. Dann kann man sich an die Aufgaben machen, die man an diesem Tag erledigen muss und möchte, und auch da hat man wieder die Freiheit, in welcher Reihenfolge man das machen möchte und wann man eine Pause einlegen will. Wenn man ein Zimmer ganz für sich hat, wo man Home-Office machen kann, währendem der Partner zu den Kindern schaut, kann man vielleicht in kürzerer Zeit einiges mehr erledigen als sonst am Arbeitsplatz, da man weder vom Chef noch von anderen Mitarbeitern oder einem Radio, das non-stopp plärrt, abgelenkt wird. Auch die Arbeiten für das Home-Schooling kann man so gestalten, dass sie den Kindern besser gerecht werden als in der Schule, dass sie vielleicht sogar etwas Freude machen und vorallem in dem Tempo, welches ihrem Alter und ihrem Charakter entspricht. Dies wirkt sich sicher auf die Motivation der Kinder aus, die Arbeiten jeden Tag und über längere Zeit auch wirklich zu erledigen. Man kann gemeinsam Mittagessen kochen, wenn man möchte, oder sich vom Partner bekochen lassen. Wem das nicht vergönnt ist, der kann sich von den Kindern helfen lassen und auch das kann zur lustigen Schulstunde werden, in der die Kinder etwas über Ernährung und die Zubereitung derer erfahren können. Man kann das gemeinsame Mittagessen richtig geniessen, denn keiner muss schnell wieder weg oder ist überhaupt erst nicht da, weil der strenge Tagesablauf dies nicht erlaubt. Da man keinen irgendwohin fahren oder abholen muss und selber ebenfalls zuhause bleiben kann, ist es egal, wann man die Hausarbeit erledigt, ob morgens oder erst nachmittags und man bekommt vielleicht sogar Hilfe dabei, ebenfalls von den Kindern oder dem Partner. Da alle Termine ausserhalb des Zuhauses wegfallen, wird man nicht den ganzen Tag brauchen, um alles, was auf der To-Do-Liste steht, zu erledigen und hat endlich wieder einmal Zeit, um ein gutes Buch zu lesen, etwas Schönes zu Basteln oder zu nähen, mit den Kindern zu Malen, ihnen vorzulesen und mit ihnen spazieren zu gehen. Da auch die Zeit zum Draussen sein stark eingeschränkt ist, ist man rasch wieder zuhause und hat jetzt vielleicht sogar noch Zeit, um endlich den Keller auszumisten, das Zimmer, das man schon immer mal neu streichen wollte zu streichen oder die vielen Fotos, die man über die Jahre mit dem Handy gemacht hat, auch wirklich einmal anzuschauen. Man kann ein Fotobuch erstellen oder gar anfangen mit den Kindern Weihnachtsgeschenke zu basteln . Wann haben wir dazu mehr Zeit als jetzt? Was, von all dem, willst du mit in die Zukunft nehmen? Mir ist bewusst, dass es nicht allen so geht. Dass diese Zeit für viele zusätzlichen Stress bedeutet. Dass viele Menschen tagtäglich draussen an der Front stehen, damit wir einkaufen und die notwendigsten Dinge nach wie vor verrichten können und die rund um die Uhr im Einsatz sind, um die Kranken zu versorgen. Deshalb an dieser Stelle ein ganz, ganz grosses DANKESCHÖN an alle, die nicht zuhause sind, die sich für uns einsetzen und die bis zum Anschlag durcharbeiten! Wir, die zuhause bleiben müssen, können aber vielleicht trotz allem diese unerwartete Selbstbestimmtheit etwas geniessen, solange sie währt. War uns überhaupt bewusst, wie fremdgesteuert wir waren? Oder haben wir einfach nur funktioniert, weil wir dachten, dass das von uns so erwartet wird? Oder weil es schlicht nicht anders ging? Vielleicht merken wir in unserer neuen Selbstbestimmtheit plötzlich, dass wir das eine oder andere davon mit in den Alltag nehmen möchten, wenn alles wieder «normal» ist. Denn die Welt, wie sie vor dem Corona-Virus war, wird es nicht mehr geben. Da können wir geradesogut noch ein paar andere Dinge ändern. Es wird anders sein «danach». Aber ob es eine bessere Welt sein wird als zuvor, das bestimmen wir selbst. Wir müssen zwar jetzt zuhause bleiben, doch wir haben nach wie vor viel Freiheit unsere Zukunft mitzugestalten, indem wir uns in der uns zur Verfügung gestellten Zeit überlegen, in was für einer Welt wir gerne leben möchten. Was von deinem jetzigen Alltag willst du gerne in die «neue Welt» mitnehmen?
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